Vor ein paar Wochen habe ich mich bei der Körber-Stiftung für den diesjährigen Studienpreis beworben. Leider wurde die Arbeit nicht ausgezeichnet — was sich bei insgesamt 430 Einreichung aber auch durchaus verkraften lässt. Ein schönes Nebenprodukt des Bewerbungsprozesses ist dabei allerdings, dass ich nun eine recht ausführliche Zusammenfassung meiner Dissertation vorliegen habe. Für alle Interessierten: Im Folgenden mein Bewerbungstext ungekürzt und in Originalfassung.
Die Psychologie der Privatheit
Eine Prozessanalyse der Mediennutzung und interpersonalen Kommunikation
Tobias Dienlin
Der Themenkomplex Privatheit gehört zweifelsohne zu den wichtigsten gesellschaftlichen Angelegenheiten vergangener Jahre. Durch die zunehmende Digitalisierung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens angestoßen, ergaben sich sowohl in der individuellen Persönlichkeitsentfaltung als auch im gesellschaftlichen Miteinander viele strukturelle Veränderungen. Zu den größten zählen dabei sicherlich die weltweite Verbreitung sozialer Netzwerkseiten (beispielsweise Facebook), die flächendeckende Nutzung mobiler Kommunikationstechnologien (beispielsweise Smartphones), oder auch die automatisierte Analyse gesammelter Informationen anhand von Big-Data Methoden (beispielsweise durch latentes Profiling). Im Unterschied zu analogen Informationen haben digitale allerdings die Eigenschaft, dass Daten in viel stärkerem Maße persistent, replizierbar und durchsuchbar werden[1] – und da mittlerweile selbst soziale Kommunikation und Interaktion digital stattfinden, entstehen heutzutage jeden Tag aufs Neue eine Vielzahl personenbezogener Informationen, welche verschiedenen ökonomischen, politischen, und sozialen Akteuren zugänglich sind. Im Sinne der Hegelschen Dialektik lautet somit eine allgemeine These, welche für die aktuelle Gesellschaft maßgeblich ist, folgendermaßen: Die Kommunikationsstrukturveränderungen vergangener Jahre führten dazu, dass die informationelle Privatheit substantiell reduziert wurde. Mit anderen Worten: Noch nie zu vor waren so viele Informationen über einen jeden Menschen frei verfügbar.
Aus diesen Veränderungen ergaben sich vielfältige neue Fragestellungen und Herausforderungen für einen jeden Einzelnen. Beispielsweise: Soll ich ein Profil auf einer sozialen Netzwerkseite eröffnen? Kann ich ein Bild meines Kindes online posten? Soll man den eigenen beruflichen Lebenslauf über Google finden können? Kann ich vertrauliche Informationen über einen Instant Messenger wie WhatsApp verschicken? Was bedeutet es, sich eine Smartwatch zu kaufen, die kontinuierlich den Puls misst? Und was für Implikationen hat es, wenn ich an all dem nicht teilhaben möchte? Die Liste der Fragen ist lang, und viele dieser Fragen können aktuell noch nicht zufriedenstellend beantworten werden – sofern dies überhaupt möglich erscheint. In jedem Fall bedeuten die strukturellen Veränderungen, inklusive der einhergehenden Fragestellungen, eine substantielle Herausforderung für Einzelpersonen. Allein, die Komplexität der Fragestellung und die Größe der Herausforderung an sich sollten kein Grund sein, sich ihrer nicht anzunehmen. Folglich müssen Prozesse hinterfragt und Werte neu diskutiert werden. Aus psychologischer und kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist es dabei vor allem wichtig zu verstehen, warum Menschen sich so verhalten, wie sie es tun, was sie währenddessen empfinden und welche Implikationen dadurch entstehen. Die primäre Fragestellung der Dissertation lautet somit: Wie nehmen Menschen Privatheit wahr? Warum offenbaren wir persönliche Informationen im Internet und was sagt das über unsere Persönlichkeit aus? Zusammengefasst: Was ist die Psychologie der Privatheit?
Neben diesem Fokus auf das Individuum soll als zusätzlicher Rahmen ebenso auch die gesellschaftliche Perspektive berücksichtigt werden. Als Antwort auf die These, dass sich die informationelle Privatheit zunehmend reduziert, kristallisierten sich dabei bisher einerseits die Antithese der “post privacy” und andererseits die Antithese der “total privacy” heraus. Die post privacy-Antithese postuliert, dass das Zeitalter der Privatheit vorbei wäre und sämtliche Kommunikation offen auszutragen ist – namhafte Vertreter sind hier beispielsweise Jeff Jarvis oder Gordon Bell. Demgegenüber besagt die total privacy-Antithese, dass sämtliche Kommunikation geschützt ablaufen müsse und dass sowohl dem Staat als auch Privatunternehmen kein Einblick in diese gewährt werden dürfe – eine These, die beispielsweise vertreten wird durch Edward Snowden oder Jacob Appelbaum. Soll die Gesellschaft allerdings – wiederum im Sinne der Hegelschen Dialektik – schlussendlich zu einer Synthese gelangen können, gilt es, beide Positionen mit der Ausgangsthese der Privatheitsreduktion zu diskutieren, um zu prüfen, welcher Weg beide berechtigten Interessen adäquat zu integrieren vermag. Um dies zu erreichen, ist es wichtig, folgende Fragen zu thematisieren und zu beantworten: Was ist der Wert der Privatheit? Wie ist dieser angesichts der mannigfaltigen Vorteile von sozialen Netzwerkseiten, instant messenger und wearables einzuordnen? Wie ist das Thema Privatheit pädagogisch aufzubereiten? Haben Menschen, die sich bewusst zurückziehen, mehr zu verbergen? Und falls ja, unterminiert dies dann nicht automatisch das Prinzip der Unschuldsvermutung?
Anhand von vier Studien versucht die vorliegende kumulative Dissertation, Antworten auf diese und weitere Fragen zu geben. Die erste Studie ist eine theoretische Arbeit, die anderen Studien sind empirische quantitative Arbeiten. Durchgängig werden dabei psychologische Konstrukte anhand von Fragebogenverfahren gemessen; mehrere Fragen (items) werden hierfür zusammengefasst und deren gemeinsame Schnittmenge in latenten Variablen anhand von Strukturgleichungsmodellen auf statistisch signifikante Zusammenhänge und Wechselwirkungen hin überprüft. In Studie 4 kommt zusätzlich die Methode des wissenschaftlichen Experiments zur Anwendung. Die Dissertation schließt mit einer übergreifenden Diskussion.
1. Privatheit besteht aus drei Elementen: Kontext, Wahrnehmung und Selbstoffenbarung
Studie 1 (“The Privacy Process Model”) schlägt eine neue Privatheitstheorie vor, das sogenannte Privatheits-Prozess-Modell (PPM; siehe Abbildung 1). Das PPM legt dar, dass Privatheit aus drei Hauptelementen besteht: dem Privatheitskontext, der Privatheitswahrnehmung und dem Privatheitsverhalten. Um die drei Elemente auszugleichen, betreiben die Menschen ständig einen Prozess der Privatheitsregulation, welcher entweder explizit/bewusst oder implizit/unterbewusst ablaufen kann. Privatheitsregulation bedeutet, dass Menschen stets einen tatsächlich vorliegenden Zustand an Privatheit mit einem gewünschten Zustand an Privatheit vergleichen; sollten diese nicht übereinstimmen, wird entweder der Privatheitskontext oder das Privatheitsverhalten angepasst. Dies funktioniert in beide Richtungen: In manchen Situationen herrscht zu wenig Privatheit vor, weswegen sich Menschen zurückziehen, beispielsweise zur emotionalen Erholung. Dementgegen kann es aber auch Situation übermäßiger Privatheit geben, in welchen Menschen bewusst isolierte Räume verlassen, beispielsweise um sich mit anderen auszutauschen, ein biographisches Erlebnis zu teilen oder einen Rat einzuholen. Neuartig ist im PPM vor allem die Differenzierung zwischen dem objektiven Privatheitskontext und der subjektiven Privatheitswahrnehmung. Gerade in medial vermittelter Kommunikation zeigt sich, dass Menschen häufig den tatsächlich vorliegenden Privatheitskontext anders und oftmals falsch einschätzen; beispielsweise empfinden Nutzer von sozialen Netzwerkseiten die Kommunikation als geschützt und privat, obwohl diese öffentlich zugänglich ist und gespeichert wird, also nicht privat ist.
Das PPM ist dabei in erster Linie eine Integration bisheriger theoretischer Arbeiten zum Thema Privatheit, die allerdings ehedem meist unverbunden nebeneinander existierten, zum Zwecke der Schaffung einer Meta-Theorie, welche die wichtigsten Prämissen, Dimensionen und Wechselwirkungen der Privatheitstheorie zusammenfasst. Somit versucht die Theorie dem wissenschaftlichen Prinzip der Sparsamkeit genüge zu leisten, um eine Synthese bereits bekannten Wissens vorzunehmen und ursprünglich vorhandene Redundanzen zu reduzieren. Überdies integriert das PPM auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, um die Privatheitstheorie nicht nur zu vereinen, sondern auch zu aktualisieren. Dies betrifft vor allem die bereits angesprochene Unterscheidung zwischen objektivem Privatheitskontext und subjektiver Privatheitswahrnehmung – eine Unterscheidung, die in seiner Grundform gewissermaßen dem basalen Dualismus zwischen Empirismus und Konstruktivismus, sprich, objektiver Gegebenheit und subjektivem Zugang, entspricht – welche bisher allerdings noch nicht in der Privatheitstheorie berücksichtigt wurde. Ebenso ist das PPM nach meinem Verständnis die erste Theorie, welche explizit die Selbstoffenbarung als primäres Privatheitsverhalten operationalisiert – eine Umsetzung, die wichtig erscheint, da Privatheit in Zeiten sozialer Netzwerkseiten zunehmend über das Ausmaß der psychologischen Selbstoffenbarung, sprich, der Kommunikation biographischer Erlebnisse und psychologischer Verfassungen, verstanden wird – anders noch als zu Beginn der 1990er Jahre, als im Zuge der Volkzählung Privatheit hauptsächlich über identifizierende Daten wie Name, Adresse, Alter oder Geburtstag operationalisiert wurde.
Für die gesellschaftliche Anwendung bedeutet das PPM vor allem, dass in pädagogischen Kontexten die Unterscheidung zwischen objektivem Privatheitskontext und subjektiver Privatheitswahrnehmung näher thematisiert werden muss. Das grundsätzliche Ziel muss lauten, die allgemeine Online-Privatheitskompetenz zu fördern, was auch zunehmend an mehreren Stellen, beispielsweise durch die Landesmedienanstalten, einzelne Stiftungen und wissenschaftliche Einrichtungen, geschieht. Bezüglich der genannten Differenzierung zwischen Privatheitskontext und Privatheitswahrnehmung ist es wichtig zu schulen, dass die Privatheitswahrnehmung täuschen kann. Nur, weil sich etwas privat anfühlt, heißt dies nicht, dass es auch tatsächlich privat ist; nur, weil man beispielsweise gerade mit seinem besten Freund, dem man grundsätzlich alles anvertrauen würde, über einen Messenger kommuniziert und es sich vertraut und abgeschottet anfühlt, bedeutet es nicht, dass dies auch tatsächlich zutrifft. Denn sämtliche Online-Kommunikation ist mediiert, das heißt, über eine dritte Partei abgewickelt; viele Schwachstellen können dabei vorliegen, beispielsweise ein offenes WLAN, eine unverschlüsselte Kommunikation, oder auch, dass die Kommunikation später auf dem Gerät durch Drittparteien gelesen werden könnte. Es ist eine neue Aufgabe der Pädagogik, dafür zu sensibilisieren, dass bestimme Kommunikation nicht geeignet ist, über gewisse Online-Kanäle geführt zu werden – was nicht heißen soll, dass dies allgemein und grundsätzlich zutrifft; Online-Kompetenz würde dann allerdings genau darin liegen, genau zu erkennen, in welchen Gegebenheiten es tatsächlich der Fall ist.
Abbildung 1: Das Privatheits-Prozess-Modell
2. Online-Selbstoffenbarung ist nicht paradox
Studie 2 (“Is the Privacy Paradox a Relic of the Past?”), mitverfasst von Prof. Dr. Sabine Trepte, analysiert das sogenannte “privacy paradox”. Das Privacy Paradox besagt, dass Menschen online in nicht nachvollziehbarer Weise agieren, dass sie beispielsweise trotz großer Privatheitssorgen bereit sind, viele persönliche und intime Dinge online zu veröffentlichen.[2] Um dies zu überprüfen, konzipierten wir eine Studie basierend auf der Theory of Planned Behavior;[3] letztere wurde Mitte der 1970er Jahre explizit dafür entwickelt, menschliches Verhalten anhand psychologischer Größen wie Einstellungen oder Intentionen vorherzusagen. Die Theory of Planned Behavior wurde bis dato nicht im skizzierten Anwendungsfall des Privatheitsverhalten umgesetzt. Die Ergebnisse eines Online-Fragebogens mit 579 Befragten aus Deutschland zeigten, dass Selbstoffenbarung durch Privatheitsabsichten, Privatheitseinstellungen und Privatheitsbedenken statistisch signifikant erklärt werden konnten. Diese Befunde wurden dabei für drei unterschiedliche Privatheitsdimensionen (i.e., informational, sozial und psychologisch) bestätigt. Insgesamt legen die Ergebnisse der Studie 2 somit nahe, dass das privacy paradox als solches nicht gefunden werden konnte, und ergo vermeintlich nicht existiert.
Die Ergebnisse bedeuten einen gewissen Bruch, respektive Neuausrichtung, der akademischen Forschung zur Erklärung von Privatheitsverhalten. Die Studie zeigt auf, warum bisher keine Zusammenhänge zwischen den psychologischen Kognitionen und dem manifesten Verhalten gefunden werden konnte: In erster Linie werden hier technisch methodische Schwachstellen genannt (beispielsweise waren die Kognitionen und das Verhalten bisher noch nicht gemäß dem Prinzip der Kompatibilität erfasst; ebenso wiesen frühere Studien häufig eine zu geringe statistische Power zur Signifikanzprüfung auf). Darüber hinaus zeigt die Studie, dass Privatheitsbedenken zwar mit manifestem Verhalten korrelieren, dass dieser Zusammenhang allerdings nur klein ist. Besser lässt sich Online-Privatheitsverhalten allerdings durch die etwas spezifischeren Intentionen, gefolgt von den ebenso spezifischeren Einstellungen, messen. Die Brücke zwischen den Privatheitsbedenken und dem Verhalten lässt sich durch Hinzunahme dieser beiden Faktoren also besser gestalten und erklären.
Gesellschaftlich bedeuten die Ergebnisse vor allem eine gewisse Neubewertung der auf sozialen Netzwerkseiten vorherrschenden Kommunikationsvorgänge. Bisher wurde diese in der Öffentlichkeit häufig kritisch beäugt, in Extremfällen im Sinne eines Kulturpessimismus sogar entschieden abgelehnt. Aber auch subjektiv lässt sich, vor allem in Deutschland, durchaus nachspüren, dass es einen bisweilen überrascht, wie aktiv online auf den Netzwerken kommuniziert wird, obwohl doch durchaus gewisse Bedenken getragen und geäußert werden. Die Ergebnisse zeigen nun auf, dass trotz dieser Bedenken das Verhalten deswegen nicht automatisch paradox ist, sondern durchaus dem eigenen persönlichen Wunsch, der eigenen Intention entspricht. Wenn man Menschen beispielsweise ganz konkret befragt, ob sie es als vorteilhaft erachten, auf sozialen Netzwerkseiten zu agieren, so hat die Antwort eine weitaus engere Verbindung und Vorhersagekraft des manifesten Verhaltens. Dieses Phänomen lässt sich freilich auch in anderen Kontexten betrachten: Beispielsweise machen sich viele Menschen Sorgen um ihre Gesundheit, betreiben deswegen allerdings noch lange nicht automatisch und aktiv Sport. Andere Gründe müssen nämlich ebenso beachtet werden, wenn es um die vollständige Erklärung von Verhalten geht; eine Überlegung, welche den Hauptansatzpunkt der dritten Studie darstellt.
3. Online-Verhalten wird beeinflusst durch Sorgen als auch erwartete Vorteile
Studie 3 (“An Extended Privacy Calculus Model for SNSs”), mitverfasst von Prof. Dr. Miriam J. Metzger, baut auf den Ergebnissen von Studie 2 auf und untersucht, ob Online-Verhalten nicht nur anhand von negativen Privatheitsbedenken erklärt werden kann, sondern ebenso anhand von positiven Faktoren, wie beispielsweise den aus der Kommunikation zu erwartenden Nutzen. Ebenso wird als weiterer Prädiktor die Privatheitsselbstwirksamkeit erfasst, welche ein Maß dessen ist, wie sehr sich Leute in der Lage sehen, ein spezifisches Online-Verhalten tatsächlich in die Realität umsetzen zu können. Zusätzlich differenziert die Studie Privatheitsverhalten in zwei Dimensionen: Online-Selbstoffenbarung (beispielsweise das Veröffentlichen eines Posts) und Online-Rückzugsverhalten (z.B. das Löschen eines Posts). Unter Verwendung eines Ansatzes, der auf dem sogenannten “privacy calculus” basiert,[4] analysiert die Studie Daten aus einer US-repräsentativen Online-Stichprobe mit 1.156 Befragten. Die Ergebnisse zeigten, dass Online-Selbstoffenbarung sowohl durch Privatheitsbedenken als auch durch erwartete Vorteile erklärt werden konnte. Darüber hinaus konnte Rückzugsverhalten sowohl durch Privatheitsbedenken als auch durch Privatheitsselbstwirksamkeit statistisch bedeutsam vorhergesagt werden. Zusammenfassend zeigt Studie 3 somit, dass die wahrgenommenen Vorteile, Privatheitsselbstwirksamkeit und Privatheitsbedenken zusammen sowohl Online-Selbstoffenbarung als auch Online-Rückzugsverhalten erklären können.
Die Studie trägt zur wissenschaftlichen Literatur vorrangig dadurch bei, indem sie die beiden Phänomene des “privacy paradox” und des “privacy calculus” integriert; unverständlicherweise standen beide Forschungsstränge bisher recht isoliert nebeneinander, es gab wenig Korrespondenz und Austausch zwischen den Vertretern der Ansätze. Dabei ist dies inhaltlich geboten, besagt der Calculus-Ansatz doch nicht nur, dass Privatheitsverhalten in der Tat durch Privatheitsbedenken bestimmt werden, sondern zusätzlich auch noch durch die antizipierten Vorteile. Neben dieser Verbindung entwickelt die Studie auch den Calculus-Ansatz weiter: Bisher wurde Privatheitsverhalten meist über Selbstoffenbarung allein gemessen; allerdings lässt sich argumentieren, dass dieser Ansatz zu kurz greift, da die Regulation von Privatheit nicht nur durch die aktive Preisgabe, sondern auch durch die bewusste Zurückhaltung von gewissen Information bestimmt wird (siehe auch den Regulationsaspekt des PPM). Um zu erklären, warum Menschen Fotos auf sozialen Netzwerkseiten hochladen, bedarf es anderer Faktoren, als in solchen Fällen, in denen erklärt wird, warum Menschen einen Post gelöscht haben. Die Studie zeigt, dass es vor allem Privatheitsbedenken sind, die Menschen dazu führen, Inhalte zu löschen. Die aktive Kommunikation hingegen wird vor allem durch die zu erwartenden Vorteile, wie beispielsweise das Aufrechterhalten von Freundschaften, bedingt.
Gesellschaftlich greift die Studie somit die Bedeutsamkeit der vorherigen Studie auf und erweitert diese, indem sie nun zusätzliche Faktoren konkret misst, um Privatheitsverhalten vollständiger erklären zu können. Und dies bedeutet, dass Menschen vor allem deswegen und trotz bestimmter Bedenken soziale Netzwerkseiten benutzen, weil sie sich dadurch Vorteile erhoffen. Und hierzu zählen Faktoren wie das bereits genannte Pflegen von Freundschaften, Erlangen von Informationen, Vermeiden von Langeweile, Pflegen eines persönlichen und beruflichen Profils zur Persönlichkeitsentfaltung, Erreichung von sozialer Unterstützung, Unterhaltung oder auch Prokrastination. Angesichts dieser genannten Vorteile erscheint klar, dass Sorgen alleine nicht das Verhalten erklären können, sondern dass diese lediglich einen isolierten Faktor in einem multivariaten Erklärungsmodell darstellen. Überdies ist es eine gesicherte psychologische Erkenntnis, dass unmittelbare Gratifikationen handlungsentscheidender sind als langfristige Nachteile; eine Beobachtung, die ebenso für soziale Netzwerkseiten zutrifft. Gleichzeitig implizieren die Ergebnisse aber auch, dass es durchaus wichtig ist, pädagogisch auf die den sozialen Netzwerkseiten inhärenten Risiken hinzuweisen und eine gewisse Achtsamkeit zu propagieren, da dies mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit in Verbindung steht, dass Nutzer zusätzliche Sicherheitsmaßen implementieren werden. Somit betonen die Ergebnisse erneut die Wichtigkeit der Schulung von Internet-bezogenen Fähigkeiten, da dies die Wahrscheinlichkeit steigt, eine aktiven Privatheitsschutz umzusetzen, sobald man sich selbst hierzu als fähiger einschätzt.
4. Der Privatheitswunsch hängt engt mit der eigenen Persönlichkeit zusammen
Studie 4 (“Predicting the Desire for Privacy”), mitverfasst von Prof. Dr. Miriam J. Metzger, analysiert die Beziehung zwischen dem Privatheitsbedürfnis und verschiedenen Facetten der Persönlichkeit. In Studie 4a wurde ein Online-Fragebogen mit 296 Befragten und in Studie 4b ein Labor-Experiment mit 87 Teilnehmern in den Vereinigten Staaten von Amerika durchgeführt. Als Persönlichkeitsfacetten wurden dabei Integrität, Geselligkeit, Risikovermeidung, Ängstlichkeit und Traditionalismus erfasst. Integrität wurde dabei als Befolgen (respektive Missachten) von gesellschaftlichen Normen verstanden; beispielsweise wurden die Teilnehmer hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit von Schwarzfahren oder dem Verlassen eines Restaurants ohne zu bezahlen, befragt. Hierdurch wurde Integrität indirekt und niederschwellig erfasst; diese Erhebungsmethode prädiziert beispielsweise tatsächliche Delinquenz. Die Ergebnisse des Fragebogens zeigten mehrere statistisch signifikante Beziehungen: Zum Beispiel wünschten sich solche Befragten mehr Privatheit, die selbst über eine mangelnde Integrität berichteten, schüchterner, weniger ängstlich und risikoscheuer waren. Das Experiment zeigte einen statistischen Trend, dass Teilnehmer, die einen Aufsatz über vergangene negative Verhaltensweisen geschrieben hatten, eher einen erhöhten Wunsch nach Privatsphäre ausdrückten; außerdem zeigte ein impliziter Assoziationstest (IAT) von Integrität, dass solche Teilnehmer, deren IAT-Ergebnisse einen höheren Mangel an Integrität implizierten, auch mehr Privatheit gegenüber einer Überwachung durch die Regierung wünschten. Zusammengefasst belegen die Ergebnisse, dass der Wunsch nach Privatheit mit mehreren Aspekten der Persönlichkeit, und insbesondere auch mit der persönlichen Integrität, zusammenhängt.
Die Studie trägt akademisch in erster Linie zum besseren Kontextverständnis von Privatheit bei. Was besagt es über eine Person, wenn sie oder er ein Mehr an Privatheit wünschen? Bisher wurde diese Frage noch nicht empirisch untersucht, die Studie stellt hier einen ersten Schritt in diese Richtung dar. Als Nächstes gilt es zu überprüfen, inwiefern die Ergebnisse auf andere Gesellschaftsschichten und Kulturen zutreffen. Ebenso stellt die Studie eine der ersten Umsetzungen des anderorts entwickelten impliziten Assoziationstests von Integrität dar, welches vor allem insofern aufschlussreich ist, als dass die Erfassung der Integrität anhand des IATs mit der selbstberichteten Version nur gering korrelierte.
Gesellschaftlich bergen die Ergebnisse einen gewissen Sprengstoff, unterstützen sie doch die dem Nichts-zu-Verbergen-Argument zugrundeliegende Annahme. Das Nichts-zu-Verbergen-Argument besagt, dass Menschen häufig ihr freizügiges Online-Kommunikationsverhalten dadurch begründen, dass ja sie „nichts zu verbergen hätten“ – eine Argumentation, die gerade im deutschen Raum angesichts der staatsgeschichtlichen Vergangenheit, welche die Stasi und die Gestapo noch im kollektiven Bewusstsein hält, oft entschieden abgelehnt wird. Die Ergebnisse implizieren allerdings, dass solche Menschen, die mehr Anonymität oder Privatheit von staatlicher Überwachung wünschen, durchaus in einer indirekten Erfassung eher berichten, dass sie dazu neigen, sozial deviantes Verhalten an den Tag zu legen, sprich, ein berechtigtes Interesse zur Verbergung desselben haben. Allein, dies ist nur ein Teilergebnis der Studie, welches zwingend weiter kontextualisiert werden muss. Nämlich, der Privatheitswunsch korrelierte nicht nur mit einem Weniger an Integrität, sondern ebenso auch mit einem Mehr an Introvertiertheit oder der Neigung, Risiken zu vermeiden. Es gibt folglich unterschiedliche Gründe, die in der Persönlichkeit eines Menschen zu verorten sind, warum Privatheit gewünscht wird. Der monokausale Rückschluss, dass Personen, die mehr Privatheit wünschen, zwangsläufig ebenso mehr zu verbergen haben, ist unzulässig – weiterhin muss stets jeder Fall im Einzelnen geprüft werden. Im Übrigen lassen sich die Ergebnisse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bedeutsamkeit gemäß Mandeville auch auf eine positive Art und Weise einordnen. Mandeville prägte den Leitspruch “private vices, public benefits”, als Ausdruck dessen, dass aus individueller Unrechtmäßigkeit durchaus gemeinschaftlicher Nutzen entstehen kann. Von Kant wurde dies wie folgt aufgegriffen: “eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemein Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, dass, obgleich sie in ihren Privatgesinnen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, dass in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg ebenderselbe ist, als ob sie keine solche bösen Gesinnungen hätten”.[5] (Ähnlich argumentierte später übrigens auch Freud in seiner Katharsis-Hypothese.) Diese Diskrepanz zwischen Privatheitswunsch und Integrität könnte also gesamtgesellschaftlich sogar ein Katalysator zur Korrektur des öffentlichen Umgangs und der allgemeinen Gesetzgebung sein, welche, trotz individuellen Fehlverhaltens, zu einem größeren Gesamt- und Gesellschaftsnutzen führen mag. Obwohl Mandevilles Hypothese vielfach rezipiert und aufgegriffen wurde, bleibt sie freilich kontrovers und kaum überprüfbar, weswegen sie hier lediglich als eine Deutungsmöglichkeit unter vielen aufgezeigt werden soll.
5. Mehr Ausgewogenheit, mehr Rücksichtnahme, mehr Kompetenztrainings
Die Dissertation schließt mit einer übergreifenden Diskussion, in welcher die Ergebnisse der vorausgehenden Studien kombiniert werden, mit dem Ziel, das allgemeine Bild der Privatheit in einer Synthese zu aktualisieren. Dieses aktualisierte Bild deutet an, dass Online-Selbstoffenbarung nicht paradox ist, sondern durchaus sinnvoll anhand psychologischer Kognitionen erklärt werden kann. Dies bestärkt eine humanistische Perspektive auf Online-Privatheitsverhalten, welches in großen Teilen vernunftgesteuert, das heißt, in Einklang mit den eigenen Intentionen und Einstellungen befindlich, abläuft. Es erscheint verständlich und nachvollziehbar, dass sich Menschen den digitalen Angeboten vor allem aufgrund deren inhärenter Vorteile zuwenden, indem sie beispielsweise soziale Kontakte pflegen oder ihre Persönlichkeit entfalten können. Online-Privatheitsverhalten zu verstehen ist wichtig, aber nicht nur deshalb, weil das Internet im gesellschaftlichen und beruflichen Kontext von zunehmender Bedeutung ist, sondern auch darum, weil der individuelle Wunsch nach Privatsphäre zentrale Aspekte der Persönlichkeit statistisch signifikant vorhersagen kann, wie beispielsweise die eigene Integrität.
Im gesellschaftlichen Diskurs lässt sich in Deutschland häufig eine hohe Priorisierung des Privatheits- und Datenschutzes erkennen, was gewiss berechtigt ist. Gleichermaßen sollte aber auch das in der Verfassung verbriefte Recht zur Persönlichkeitsentfaltung nicht vergessen werden. Angesichts der Tatsache, dass ein substantieller und zunehmender Teil des gesellschaftlichen Lebens – beispielsweise Kommunikation, Erwerbstätigkeit, Partnerwahl, Unterhaltung und politische Partizipation – online stattfindet, so müssen hier ebenso Zugangsmöglichkeiten gesichert und aufrechterhalten werden. Folglich muss das gesellschaftliche Ziel, wie bei vielen anderen Anwendungsfällen auch (beispielsweise Mobilität, Konsum, Ernährung) zuvorderst lauten, einen ausgeglichen, verantwortungsbewussten und selbstbestimmten Umgang mit den neuen Kommunikationsstrukturen zu ermöglichen. Wie lässt sich dies erreichen? Ich denke, dass es eine vollumfängliche Behandlung des Themas Privatheit erfordert, sowohl die Vorteile der neuen Kommunikationsstrukturen anzuerkennen und zu berücksichtigen, als auch Rückzugsräume zu schützen und Privatheitssorgen ernst zu nehmen. Kurzum, es bedarf eines ausgewogenen, zweiseitigen Diskurses. Moderne Gesellschaften könnten versuchen, erneut bedeutsame kulturelle Artefakte der Privatheit zu entwerfen (die Zeit scheint reif für ein neues „1984“), alte und obsolete interpersonale Verhaltensmuster in Bezug auf die Privatheit zu aktualisieren (sollte ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer tatsächlich aufgrund eines Facebook-Posts kündigen dürfen?), ein besseres Verständnis der konzeptionellen Natur von Privatheit zu fördern (Kommunikation des Unterschieds zwischen Privatheitskontext und Privatheitswahrnehmung), auf neue und stärkere Gesetze zum Privatheitsschutz hinzuwirken (sozialen Netzwerkseiten sollte die Weitergabe personenbezogener Informationen an Drittanbieter untersagt werden) und, ganz grundsätzlich, Privatheitskompetenz so allumfassend wie möglich zu fördern (beispielsweise in Form von Privatheitskompetenztrainings an Grund- und weiterführenden Schulen).
Wie nehmen Menschen also Privatheit wahr, warum offenbaren wir persönliche Informationen im Internet und was ist die Psychologie der Privatheit? Menschen nehmen Privatheit vor allem dann wahr, wenn sie sich abgeschottet, sicher und zurückgezogen fühlen. Interessanterweise tun sie dies vor allem dann, wenn sie sich mit engen Freunden, Familien und Verwandten umgeben, wenn sie mit ihnen kommunizieren können, wenn sie sich ihnen nahe wähnen. Dieses Vertrautsein wird allerdings von Intermediären wie Facebook, Google, WhatsApp und Co systematisch ausgenutzt, indem sie diese Kommunikation dokumentieren, systematisieren und monetarisieren. Diese Diskrepanz zwischen subjektiver Empfindung und objektiver Gegebenheit wird allerdings nicht ausreichend kognitiv abgebildet, da die wirtschaftliche Verarbeitung unsichtbar im Hintergrund abläuft. Wir offenbaren Informationen, weil Selbstoffenbarung eine Währung, ein Mittel des gesellschaftlichen Miteinanders sind. Aufgrund von Selbstoffenbarung knüpfen und aufrechterhalten wir Freundschaften, lernen unsere Partner kennen und finden neue Arbeitsstellen – Selbstoffenbarung ist somit ein Mittel zum Zweck der Erreichung von Primärbedürfnissen wie Freundschaft, Liebe, Unterhalt und Selbstverwirklichung. Die Psychologie der Privatheit zu verstehen bedeutet somit zu erkennen, dass Selbstoffenbarung und Informationsaustausch grundlegende interpersonalen Austauschakte sind, verbunden mit den entsprechenden Sorgen und antizipierten Gratifikationen.
Was ist der Wert der Privatheit? Vor allem die grundlegenden Arbeiten von Irvin Altman[6], aber auch manche Ergebnisse der hier präsentierten Studien, zeigen, dass der Wert der Privatheit in erster Linie darin besteht, Menschen einen emotionalen Rückzugsort zu ermöglichen, somit einen Ort der Entspannung und des Loslassen-Könnens. Nicht jeder Mensch ist immer und durchgängig gesellig, sondern benötigt Momente des Alleinseins zur Sammlung und Erholung. Privatheit ermöglicht es, freie Entscheidungen treffen zu können; der Druck, sich der vorherrschenden Obrigkeitsmeinung anzuschließen, schwindet in privaten Räumen, Vielfalt wird ermöglicht. Privatheit wird benötigt, um die eigene Persönlichkeit entfalten zu können, um Rollen und Positionen auszutesten, um sich selbst zu erfahren. Und zu guter Letzt ist Privatheit auch stets ein Mittel zum Zweck: Zum Austausch sensibler Informationen wie Zugangsdaten, Kontodaten, oder Krankenakten. Privatheit besitzt letztlich doch zu viele Vorteile, um sie kurzfristig aufgrund unmittelbarer Vorteile neuer Kommunikationsstrukturen dauerhaft zu riskieren.
Studie 4: Dienlin, T., & Metzger, M. J. (2016). “Nothing to hide”: Predicting the desire for privacy. Manuscript under review.
[1] boyd, d. m. (2008). Taken out of context. American teen sociality in networked publics.
[2] Barnes, S. B. (2006). A privacy paradox: Social networking in the United States.
[3] Ajzen, I. (1985). From intentions to actions: A theory of planned behavior. In J. Kuhl & J. Beckmann (Eds.), Action control (pp. 11–39). Berlin, Germany: Springer. doi:10.1007/978-3-642-69746-3_2
[4] Culnan, M. J., & Armstrong, P. K. (1999). Information privacy concerns, procedural fairness, and impersonal trust: An empirical investigation; Krasnova, H., Spiekermann, S., Koroleva, K., & Hildebrand, T. (2010). Online social networks: Why we disclose. Journal of Information Technology, 25, 109–125.
[5] Zitiert nach Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 14. Auflage, S. 186
[6] Westin, A. F. (1967). Privacy and freedom.
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