Der Landtag des Landes Saarland bat mich, eine Stellungnahme zu den Effekten von Sozialen Medien auf das Leben und die Entwicklung von Jugendlichen zu verfassen. Hierzu wurden mir einige Fragen vorab zugeschickt.
Die Sitzung findet am 24.02.2021 (digital) statt. Da meine Stellungnahme abschließend veröffentlicht wird, füge ich sie hier auf meinem Blog bereits vorab ein.
Stellungnahme: Anhörung über die Auswirkungen der Digitalisierung und der zunehmenden Nutzung von sozialen Netzwerken auf Jugendliche im Saarland, Chancen, Risiken und Entwicklungen
1. Hintergrund und Zusammenfassung
Ich forsche als Medienpsychologe zur Mediennutzung und zu Medieneffekte. Ein Fokus liegt dabei auf Sozialen Medien. Inhaltlich untersuche ich primär Fragen der Privatheit und des Wohlbefindens.
Im Folgenden gebe ich zu verschiedenen mir vorab zugeschickten Fragen eine Einschätzung. Da es sich um eine große Anzahl an Fragen handelt, kann dies nur kurz geschehen. Meine Antworten basieren auf empirischen Studien und persönlichen Einschätzungen. Wenn es sich primär um persönliche Einschätzungen handelt, habe ich dies bemerkt.
Mein Verständnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die meisten Risiken von sozialen Medien werden überschätzt. Forschungsüberblicke zeigen keine starken negativen Effekte auf verschiedene Marker der psychischen Gesundheit. Dies mag überraschen, und in der Öffentlichkeit scheint dies eher unbekannt.
Insgesamt scheinen die Effekte zwar durchaus eher im negativen Spektrum angesiedelt zu sein. Effekte sind in der Summe aber sehr klein, womöglich nicht praktisch relevant. Gleichzeitig gibt es in Teilgruppen durchaus starke, bzw. verstärkende, extremisierende Phänomene. Es gibt freilich ebenso positive Effekte sozialer Medien, wie bspw. soziale Unterstützung, Information oder Unterhaltung. Man sollte die Effekte nicht übermäßig generalisieren, denn diese hängen stark von der Nutzungsart ab.
Eine abschließende Beurteilung ist aber auch aus wissenschaftlicher Sicht sehr schwer, da der Forschungsgegenstand komplex, facettenreich und schwer empirisch zu messen ist. Es geht eher um Plausibilität, denn Sicherheit.
Die Lösung scheint in einer bewussten, reflektierten und nicht übermäßigen Nutzung der Angebote zu liegen. Abstinenz riskiert, Chancen zu verpassen (Digitalisierung, Bildung, Inhaltliche Expertise).
Zusammengefasst: Man sollte also gegenüber der Nutzung Sozialer Medien durchaus kritisch und aufmerksam sein. Grund zur allgemeinen Panik oder Veranlassung für einschneidende Regulierungen sehe ich aber nicht.
2. Fragen und Kurzantworten
2.1. Welche Ergebnisse zeigen medienwissenschaftliche Analysen hinsichtlich des Rezeptionsverhaltens Jugendlicher mit Blick auf digitale Medien und sozialen Netzwerken? Insbesondere hinsichtlich a) des zeitlichen Umfangs der Nutzung, b) favorisierter Inhalte sowie c) corona getriebener Entwicklungen
Junge Menschen nutzen zunehmend Soziale Medien. Die genauen Zeiten sind schwer zu bestimmen und schwanken zwischen den Studien. Die Jim-Studie (2020) bspw. beziffert die Online-Zeit auf knapp 4 Stunden. Mindestens eine Stunde fällt hierbei auf soziale Netzwerke. Aber die genauen Grenzen der Angebote verschwimmen zunehmend, da auch Messenger wie WhatsApp als Soziale Medien gezählt werden, und Video-Portale wie Youtube bspw. ebenso starke soziale Anteile haben.
Favorisierte Inhalte sind allgemein Infos aus dem sozialen Netz und Umfeld, Unterhaltung, Gaming und Information, Design & Beauty, Sport, Gesundheit und Fitness. Ebenso werden aber auch Schulinhalte und -aufgaben besprochen, und es wird online nach inhaltlichen Tutorials zu Fachthemen gesucht.
Corona-bedingt ist die Dauer der Nutzung weiter gestiegen. Gemäß der aktuellen JIM-Studie um fast 1 Stunde pro Tag. Digitale Angebote werden zunehmend für Bildungsaufgaben genutzt. Grundsätzlich scheinen sich die Nutzungsmuster durch die Pandemie nicht stark inhaltlich verändert zu haben. Viele soziale Kontakte, die sonst im realen Leben erfahren wurden, sind nun noch stärker online vertreten.
2.2. Welche Unterschiede in der Nutzung gibt es a) nach Medien, b) nach Alter, c) nach Geschlecht
Instagram ist tendenziell eher positiv, betont Erfolge und schöne Dinge, ist aktuell das wichtigste Netzwerk der Jugendlichen. Anschließend folgt Snapchat, ein Netzwerk, das privatsphärefreundlicher ist, da Nachrichten hier automatisch nach einer gewissen Zeit verschwinden. TikTok nimmt an Bedeutung stark zu und thematisiert Unterhaltung, Kreativität und Musik. Twitter ist von eher geringerer Bedeutung, auch wenn diese zunimmt. Facebook ist kaum noch aktiv genutzt, von geringerer Bedeutung. Die meiste Kommunikation läuft über Instant Messenger wie WhatsApp. Zunehmend auch über privatsphärefreundliche Messenger wie Signal, Threema oder Telegram. Ein Großteil der Videonutzung erfolgt nun über Portale wie Netflix oder Amazon Prime, das lineare Fernsehen verliert an Bedeutung. Live-Streaming von Spielen über Plattformen wie Twitch nehmen an Bedeutung zu.
Jüngere Nutzer fokussieren stärker auf Unterhaltung und Gaming, ältere mehr auf soziale Interaktionen und Informationen. Ebenso spielen Dating Apps wie Tinder eine zunehmende Bedeutung (auch wenn diese meist erst ab 18 Jahren genutzt werden dürfen).
Mädchen fokussieren (im Durchschnitt) stärker auf soziale Interaktionen, auf Design und Beauty sowie auf Positivität. Jungs fokussieren stärker auf Gaming, Sport sowie auf Videoplattformen. Während Instagram in weitaus größeren Teilen von Mädchen genutzt wird, wird YouTube mehr von Jungs gewählt.
2.3. Wie beurteilen Sie die Entwicklungen in den Sozialen Medien hinsichtlich a) der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen b) der Meinungsvielfalt.
In Bezug auf die allgemeine Entwicklung lässt sich kaum eine Aussage treffen. Soziale Medien sind allgemeines Kulturgut, aus dem Leben der Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Jugendliche nutzen soziale Medien um neue Kontakte aufzubauen, um eine eigene Identität zu entwickeln, um sich zu informieren, um Zeit zu vertreiben. Die Shell-Studien der vergangenen Jahre zeigen (meiner Lesart nach) keinen Trend zu einer sich „verschlechternden“ psychischen Entwicklung. In eigenen Untersuchungen konnte ich nicht feststellen, dass in den vergangenen zwanzig Jahren die Lebenszufriedenheit von Jugendlichen in Europa gesunken ist; im Gegenteil, diese scheint ganz leicht gestiegen zu sein.
Die Frage bzgl. der Meinungsvielfalt ist empirisch sehr schwer zu beantworten, und es existieren hier verschiedene Annahmen nebeneinander – die durchaus plausibel sind, sich aber bisweilen widersprechen. Ich selbst forsche nicht aktiv zu diesem Thema, habe mich hier aber in den Forschungsstand eingelesen. Es gibt einige Studien, die zeigen, dass Soziale Netzwerke wie Facebook eher dazu führen, dass wir mit einer Mehrzahl an unterschiedlichen Meinungen konfrontiert werden. Man bekommt Einblick in Gedanken und Positionen, die vormals in geschlossenen Räumen blieben. YouTube scheint stärker zu einer Homogenisierung und bisweilen Extremisierung zu führen, in dem angeschaute Videos eher zu weiteren, ähnlichen Videos führen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit extremere Positionen vertreten.
Überdies ist es schwer, Meinungsvielfalt normativ zu beurteilen. In manchen Dingen ist Meinungsvielfalt förderlich, in anderen aber auch nicht – bspw. wenn es um Ablehnung gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse geht.
Allgemein scheint das Matthäus-Prinzip zu gelten („wer hat, dem wird gegeben“). Jugendliche mit gesichertem Hintergrund und gesunder psychischer Disposition können die Medien häufig sogar gewinnbringend nutzen. Für Personen mit fragilem Hintergrund verstärken Soziale Medien bereits bestehende negative Dispositionen. Allgemein betrachtet, sprich im Bevölkerungsdurschnitt, zeigen großangelegte Befragungsstudien bisher keine relevanten Effekte der sozialen Mediennutzung auf das Wohlbefinden.
2.4. Welche Erkenntnisse haben Sie über die Auswirkungen von Desinformation in den Sozialen Medien?
Desinformation behandelt das bewusste Streuen falscher Informationen, der Sender ist sich also der Falschheit im Klaren. Missinformation hingegen behandelt das Streuen falscher Informationen, unabhängig von der Absicht oder der Kenntnis über deren Wahrheitsgehalt.
Das bewusste Streuen von Falschinformationen, also Desinformation, scheint im Rahmen von größeren Wahlen verhältnismäßig gering zu sein. Das Problem scheint in Deutschland geringer als in den Vereinigten Staaten. Was als Desinformation gilt und was noch als Meinungsäußerung, ist ebenso schwer abzuschätzen. (Persönlich würde ich einige Kommunikation von Vertreter:innen der AfD als Desinformation bewerten; andere als im Rahmen einer Demokratie zulässige Meinungsäußerung, die man zwar nicht respektieren, aber doch zumindest zulassen muss.)
Die Auswirkungen von Desinformation sind sicherlich negativ, führen sie doch zu inhaltlich falschen Entscheidungen. Ob dies bei jüngeren Generationen stärker ausgeprägt ist als bei älteren Generationen, ist schwer einzuschätzen. Beispielsweise kommen aktuell einige inhaltlich und wissenschaftlich richtige Positionen in Bezug auf dem Klimaschutz gerade aus gut informierten Kreisen Jugendlicher; Falschinformationen im Kontext der Pandemie werden eher von älteren Personen rezipiert und verbreitet.
Davon unabhängig ist es zunehmend wichtig, und zwar generationenübergreifend, Marker von Nachrichten mit hoher Qualität zu erkennen. Ebenso ein gesundes Maß an kritischem Hinterfragen zu üben. Durchaus mitdenken und Hintergründe versuchen zu verstehen, aber nicht in irrationale Verschwörungsmythen abzudriften.
Auch wenn ich der Auffassung bin und die Literatur so verstehe, dass Medieneffekte allgemein eher gering sind, so zeigen doch verschiedene Ereignisse der vergangenen Monate recht eindeutig, dass sich Randgruppen durchaus radikalisieren. Ich persönlich sehe die Gefahr von Desinformation eher bei älteren Menschen, unzufriedenen Menschen, egoistischen Menschen sowie sozial und gesellschaftlich abgehängten Menschen.
2.5. Welche Einflussmöglichkeiten sehen Sie auf Kinder und Jugendliche im Rahmen ihres Aufwachsens in der digitalen Gesellschaft?
Positive wie negative, wobei Medienwirkungen landläufig meist überschätzt werden. Grundlage und wichtigste Voraussetzungen sind ein gesunder Selbstwert, ein intaktes soziales (familiäres) Netz und eine solide Bildung. Soziale Medien sind aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken oder abzuschaffen. Es gilt also nun vielmehr, diese bestmöglich und gewinnbringend zu nutzen. Eine aktive, reflektierte und nicht allzu übermäßige Nutzung scheint erstrebenswert.
Ein besonderer Schwerpunkt sollte hier auf dem Fördern digitaler Kompetenzen liegen. Ein kritisch-kompetenter Umgang mit den sozialen Medien scheint im Großen und Ganzen ein Puffer gegen potenzielle negative Effekte darzustellen; sowohl auf das Wohlbefinden als auch auf Umgang mit Des- oder Missinformation.
2.6. Welche Entwicklungen, Chancen und Risiken sehen Sie allgemein bei der Digitalisierung und der Nutzung sozialer Netzwerke Kinder und Jugendliche betreffend?
Chancen: Soziale Verbindung und Vernetzung, Unterhaltung, politische Teilhabe und Empowerment, neues berufliches Arbeitsfeld (bspw. als Influencer:innen oder als Social Media Manager:innen bei Unternehmen), Selbstverwirklichung, Information (sowohl sozial, politisch, aber auch was Aspekte wie Kunst, Design, Gesundheit oder Sport betrifft).
Risiken: Übermäßige exzessive Nutzung; Vernachlässigen anderer wichtiger Dinge (Schule, Sport, Treffen, Lesen von Büchern); Verstärken von bereits existierenden negativen Tendenzen und damit einhergehende Radikalisierung von Randgruppen/-personen; verstärkte soziale Vergleichsprozesse (Erfolgsindikatoren wie Anzahl an Likes und Follower machen Vergleich einfacher; ebenso ist das Feld derer, mit denen man sich vergleicht, weitaus größer als früher, und es ist schwerer/seltener, der/die Beste zu sein und Ansprüchen zu genügen).
2.7. Welche sozialen, gesundheitlichen, psychologischen und die Entwicklung betreffenden Einflüsse und Auswirkungen hat die Nutzung sozialer Netzwerke auf Kinder und Jugendliche?
Wahrscheinlich: Verstärkung bestehender Tendenzen, Talente, Kompetenzen und Gaben; womöglich leicht erhöhte soziale Vernetzung und Sozialkapital; womöglich sehr leicht reduzierte Lebenszufriedenheit; womöglich leicht höhere Selbstbezogenheit und Narzissmus.
2.8. Wie verändert die steigende Nutzung sozialer Netzwerke Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Gruppenbildung und Gruppengefüge von Kindern und Jugendlichen?
Es scheint einen leicht positiven Zusammenhang mit Selbstbezogenheit und Narzissmus zu geben. Das Selbstwertgefühl ist voraussichtlich relativ unabhängig von der Nutzung sozialer Medien. Es finden viele Vergleichsprozesse statt. Diese können negativ sein, wenn es um den Vergleich mit erfolgreichen Peers geht, man selbst aber unzufrieden und unsicher ist. Gleichzeitig zeigen neue Studien, dass der Aufwärtsvergleich auch funktionale Wirkungen haben kann, beispielsweise in Form von Motivation, Inspiration und Selbstverbesserung. Junge Menschen treffen sich heute seltener im realen Leben, die Anzahl der Kontakte geht zurück, auch schon vor der Pandemie. Gleichzeitig bleibt die Zahl der engen Freunde, bzw. die Existenz von Gesprächspartner für wichtige Fragen, konstant. Die Einsamkeit hat innerhalb der vergangenen Jahre nicht zugenommen (Daten allerdings aber noch vor Corona). Ebenso hat sich die allgemeine Lebenszufriedenheit nicht reduziert.
2.9. Inwiefern wirken sich die Digitalisierung und insbesondere die zunehmende Nutzung von sozialen Netzwerken auf Informationsbeschaffung und -Verarbeitung, Mediennutzung und Meinungsbildung von Kindern und Jugendlichen aus, welche Chancen und welche Risiken sind erkennbar und welche Konsequenzen sollten in Schulen, Politik und Gesellschaft daraus gezogen werden?
Soziale Medien sind zentral zur Informationsbeschaffung und Meinungsbildung. Das Smartphone ist zum Meta-Medium geworden und vereint viele Angebote und Geräte, die früher separat genutzt oder gekauft werden mussten. Die Niederschwelligkeit, eigene Inhalte beisteuern zu können, stellt sowohl Chancen als auch Risiken dar.
Chancen in Form von politischem Empowerment und dem Ansprechen sozialer Ungerechtigkeiten. Ebenso dem Entwickeln und Finden neuer Karrierewege und Berufe. Negativ diesbzgl., dass Niederschwelligkeit auch eher Des- und MIssinformation ermöglicht, Hass und negative Rede sich schnell verbreiten.
Schulen, Politik und Gesellschaft sollten erkennen, dass sie diese Kanäle zwingend bespielen müssen, um Jugendliche erreichen zu können. Dies muss auf die Art und Weise der Kanäle geschehen – nicht, in dem bekannte Formate unverändert übertragen werden. Authentizität und hohe Qualität sind die wichtigsten Faktoren, die es bei der Angebotserstellung für neue Medien zu beachten gilt.
2.10. Welchen Einfluss hat die zunehmende Nutzung sozialer Medien auf das Kommunikationsverhalten von Kindern und Jugendlichen? Und welche Schlussfolgerungen sollten daraus gezogen werden?
In einer eigenen Studie konnten wir nicht feststellen, dass das Kommunizieren über Soziale Medien zu weniger Face-To-Face Kommunikation führt. Im Gegenteil, wer mehr online kommuniziert, kommuniziert auch mehr offline. Kommunikationsakte lösen Reaktionen hervor, und der Kanal ist hier eher nebensächlich.
Medienkompetenz bedeutet heute mehr denn je, für unterschiedliche Anlässe den jeweils richtigen Kommunikationskanal auswählen zu können. Persönliche beispielhafte Einschätzung: Probleme und Streitigkeiten sollten nicht via Messenger ausgetragen werden, sondern besser persönlich oder im Telefonat. Informationen, die Bestand haben sollen, recherchiert werden können, profitieren von digitaler Verbreitung. Die Briefform als Kommunikation hat an Bedeutung stark verloren, die E-Mail- (aber auch Messenger-) Kommunikation im beruflichen Kontext stark an Bedeutung gewonnen. Beide Formen sollten weiterhin beherrscht werden.
Ebenso ist es unerlässlich, das Bildungsangebot zu digitalisieren. Als Beispiel, Lehrer:innen benötigen zwingend eine berufliche E-Mail Adresse und ein digitales Endgerät, um mit ihren Schüler:innen zeitgemäß kommunizieren zu können und sie diese für die Arbeitswelt vorzubereiten.
2.11. Welche Erfahrungen mit Cybermobbing und Cybergrooming von Kindern und Jugendlichen haben Sie gemacht und wie groß ist aus Ihrer Sicht das Problem, wie viele Kinder und Jugendliche sind betroffen?
Ich selbst forsche nicht zu diesem Gebiet und kenne mich in der Literatur entsprechend auch nicht ausreichend aus, um den Sachverhalt inhaltlich abschließend einschätzen und Empfehlungen aussprechen zu können.
Die Zahlen der aktuellen JIM-Studie dokumentieren, dass knapp 30 Prozent aller Jugendlichen angeben, dass über sie bereits falsche oder beleidigende Sachen online verbreitet wurden. Diese Zahlen sind am Steigen, vor einem Jahr waren es lediglich 20 Prozent. Cybermobbing ist in jedem Fall ernst zu nehmen
2.12. Und was empfehlen Sie als wirksame Gegenmaßnahmen?
Auch hier gilt, dass ich nicht die notwendige Expertise habe, um das genauer einschätzen zu können. Es muss gewiss ein größeres Bewusstsein geschaffen werden, dass auch online diese negativen Erlebnisse stattfinden. Medienkompetenz bedeutet auch, ebenso in Online-Räumen die übliche Etikette zu wahren und positiv höflichen Umgang einzuüben. Dies scheint mir eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, aber das Einüben beginnt gewiss auch hier bereits anteilig in pädagogischen Räumen.
2.13. Inwiefern hat die soziale Herkunft und die Einkommenssituation der Eltern Einfluss auf die Nutzung digitaler Angebote und insbesondere sozialer Netzwerke durch Kinder und Jugendliche? Gibt es eine soziale Spaltung betreffend Nutzungsverhalten, Inhalten, Erfahrungen? Und wenn ja, was empfehlen Sie, um die gleichberechtigte digitale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen Elternhäusern zu erhöhen?
Wie oben berichtet, lassen sich diese Phänomene in der Gesellschaft beobachten. Zuerst ist Deutschland einer der wenigen Länder, in dem Menschen mit niedrigerem sozio-ökonomischen Status (SES) soziale Medien mehr nutzen. Es ist also nicht unbedingt so, dass niedriger SES einen geringeren Zugang bedeutet. Allerdings gibt es Unterschiede in den Geräten des Zugangs: Während Smartphones status-übergreifend genutzt werden, so verfügen Menschen mit höherem SES eher über Geräte wie Laptops oder Desktop-PCs. Dieser Unterschied ist bspw. im Kontext Home-Schooling relevant.
Es lässt sich aufzeigen, dass Menschen mit niedrigerem SES aus den genutzten Angeboten weniger Vorteile ziehen können. Einige dieser Prozesse scheinen logisch und selbsterklärend und politisch schwer abwendbar. Bedeutet, sobald es Kompetenzen und Erfolgsmaße gibt, führen faire Prozesse dazu, dass höhere Ausgangskompetenz und Fähigkeit zu stärkerem Erfolg führen. Es gilt also primär, Ausgangskompetenzen zu stärken, so dass auch sozio-ökonomisch schwächer gestellte aus den Angeboten profitieren können.
Dies konkret umzusetzen ist freilich schwierig. Rufe nach mehr Bildung sind gewiss berechtigt aber auch billig, da das System diese bereits jetzt bestmöglich umzusetzen versucht. Ich denke, das allgemeine Errichten einer digitalen Infrastruktur, welche im Bildungswesen von allen Beteiligten genutzt wird, ist unerlässlich, um konkrete Kompetenzen hintergrundübergreifend zu fördern. Es ist meine persönliche Auffassung, dass digitale Endgeräte Voraussetzung für zeitgemäße Bildung sind, ähnlich wie Schulbücher. Schlechter gestellten Familien sollte – ebenso wie bei anderen Schulmaterialien – hier der Zugang über finanzielle Unterstützung gesichert und garantiert werden.
Weiterführende Literatur
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